Ich hatte einen Traum. Einen Weihnachtstraum, besser gesagt, einen Vorweihnachtsalbtraum. Ich kann mir nicht erklären, woran es gelegen haben kann, daß in dieser Nacht die Synapsen so rücksichtslos Achterbahn fuhren. War es gar die Strafe für meine unwirtschaftliche Verweigerung der Nutzung vorweihnachtlicher Konsumtempelangebote? Vielleicht hängt es aber auch mit meiner alljährlichen Dezember-Bettlektüre von Charles Dickens „Eine Weihnachtsgeschichte“ zusammen. Sie wissen schon, die Geschichte um den herzlosen Ebenezer Scrooge, dem von den Geistern der vergangenen, der gegenwärtigen und der künftigen Weihnacht der Spiegel seines Lebens vorgehalten wird. Nächtliche Ausflüge zeigen ihm auf, welche Konsequenzen dann letztendlich auch für ihn daraus erwachsen. Aber besser, ich schildere Ihnen, was mir passierte.

Also, es begann an einem Abend in der letzten Vorweihnachtswoche. Nachdem ich mein müdes Haupt zur Ruhe gebettet hatte, übermannte mich ein bleierner Tiefschlaf. Punkt Zwölf fegte ein kalter Wind durchs Schlafzimmer. Als meine schlaftrunkenen Augen sich an dieses merkwürdig lila schimmernde Licht gewöhnt hatten, wurde ich einer unbekannten Gestalt direkt vor meinem Bett gewahr. Da stand ein Kerl im Anzug, den Schlips akkurat gebunden, das klebrige Grinsen eines erfolgsverwöhnten S-Klasse-Fahrers auf dem Gesicht. Auf seinem Brustschildchen stand in dicken Buchstaben: „Centermanager“. Mir stellten sich die Nakkenhaare auf. Er erklärte mit einer verkaufsgesprächgewohnten Stimme, er wäre der Geist der konsumorientierten Weihnacht und er wäre dafür verantwortlich, all jenen Abtrünnigen, die ihre Geschenke immer noch bei kleinen Anbietern erwerben, die weihnachtliche Kaufrauschatmosphäre eines riesigen Einkaufsparadieses zu präsentieren. Ich wollte ihn gerade, mit Hinweis auf meinen übervollen Terminkalender, vertrösten, da bemerkte ich, daß ich in einem schwarz-gelb gestreiften Pyjama, mit schwarzrotgoldenem Flaggensymbol auf dem Ärmel, steckte. Der Geist der konsumorientierten Weihnacht erklärte kurz: „Ein Geschenk der Regierung. Sie sollten endlich mal damit anfangen, Ihr kleinbürgerlich regionales Kaufverhalten zu überdenken. Megaangebote von Megaanbietern in Megamärkten … und Sie sind so undankbar.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, tanzten plötzlich Sterne um mich herum. Ein überdimensionales Staubsaugerrohr sog mich ein, unter Zischen und Pfeifen wurde ich durch die Luft gewirbelt, und nach einem Knall fand ich mich plötzlich in einem riesigen Gebäude wieder. War ich jetzt in der Hölle? Nicht wirklich, aber nah dran! Um mich herum war alles hell erleuchtet, geschmacklose Weihnachtsdekorationen so weit das Auge blickte. Es roch nach Waffeln, Zimtsternen, Glühwein, Grog, Bratwürsten, Quarkkeulchen, gebrannten Mandeln, Eis mit Schokosoße, Rumtopf, Christstollen, Eierpunsch, Grünkohl, Zukkerwatte, heißen Maroni, Truthahn vom Grill … Jeder einzelne Geruch sicherlich lecker, aber als nasaler Gesamteindruck ein teuflisches Gemisch. Überall hasteten gestreßte Menschen, beladen mit Tüten, Taschen und Päckchen. Sie schubsten, drückten, zogen sich in verschiedene Richtungen. Mich, in meinem dämlichen Schlafanzug nahm keiner wahr. Bei all dem Geschiebe mußte ich erkennen, daß ich hier nur überlebe wenn ich mit dem Strom schwimme. Und los ging es. Als erstes wurde ich in ein riesiges Parfümlabor gestoßen. Erzeugten schon die Gerüche der angebotenen Speisen Übelkeit, so erhielt ich jetzt die komplette synthetische Geruchspalette vor den Latz geballert. Wieder draußen, verfing ich mich in einem Lichtschlauch, strauchelte – und knallte auf eine Rolltreppe, die mich direkt in die Dessousabteilung bugsierte.

Im Gegensatz zum unteren Tollhaus fiel ich hier in meinem bescheuerten Schlafanzug auf. Ein gleichzeitiges Aufblitzen in den Augen von mehreren Verkäufern, gab mir das Signal, mich schnell zu entfernen. Mein Ziel: die Umkleidekabine. Hier erhoffte ich mir Ruhe bis zum Ende dieses Martyriums. Doch weit gefehlt. Röchelnde Geräusche machten mich auf die Nebenkabine aufmerksam. Ein kecker Blick um die Ecke zeigten mir einen Weihnachtmann mit verrutschtem Bart und ein goldgelocktes Wesen mit Engelsflügeln, die die Nächstenliebe auf ihre eigene Art interpretierten. Die Odyssee ging weiter. Ich landete in den verschiedensten Räumlichkeiten moderner Vermarktungsabteilungen. Überall versuchte man mir Dinge überzuhelfen, die für das Weihnachtsfest unbedingt als Gabe für meine Lieben unter den Baum gehörten. Nebenbei bekam ich den Hinweis, auch mal an mich zu denken und mein irritiertes Nicken gab Anlaß, mir in schmerzhaften Prozeduren die Wimpern zu begradigen und mir die Brusthaare zu epilieren. Eine solariumverbrannte Fußpflegerin hielt einen Mistelzweig über mein Haupt, und wäre ich nicht in diesem Moment auf einer giftigmatschigen Mandarine ausgerutscht, hätten mich ihre bösartig grellrosa Lippen getroffen.

Aus tausend Lautsprechern tönten gleichzeitig tausend Weihnachtslieder. Ein aus Lappland eingeflogenes Rentier wurde unter dem Beifall der Einkäufer umlackiert. Die natürliche Farbgebung entsprach nicht dem modernen Weihnachtstrend. Unten in der Halle ein Menschenauflauf. Irgend etwas geschah dort. Nachdem mir schnell noch als Schauvorführung die Zähne gebleicht wurden, mir eine genervte Alte beim Überholmanöver ihre Gehhilfe in die Hacken knallte und ich fünf Minuten damit zubrachte, mir ein Stück kandierten Apfel aus dem Haupthaar zu operieren, erreichte ich die Menschenansammlung. Auf allen Vieren pirschte ich mich durch die gaffende Masse. Vorn angekommen, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick. Auf einer kleinen Bühne standen mehr oder weniger bekannte Personen aus der brandenburgischen Landesregierung, aufgereiht wie ein Chor. Sie sangen. Sie sangen, aber jeder etwas anderes. Da sang der brandenburgische Minister für Infrastruktur und Landwirtschaft Jörg Vogelsänger „Ihr Rinderlein kommet…“, der EX-Innenminister Rainer Speer „Abschied ist ein scharfes Schwert…“ und der Wirtschaftsminister Christoffers „ … bei uns im Revier, wo die Kohle regiert“. In der Mitte dieser Chorkoalition stand der Ministerpräsident Matthias Platzeck, er hatte die LINKE-Fraktionschefin Kerstin Kaiser untergehakt und beide sangen „… die Partei, die Partei hat immer recht“. Mehr konnte ich leider nicht erkennen, da mir eine Centerhostess ihren Pfennigabsatz in den Handrücken bohrte. Ein scharfer Schmerz, plötzlich Sterne, Zischen, Pfeifen, ein Knall – ich war wieder zu Hause. Schweißüberströmt saß ich im Bett. Alles sah aus wie immer. Zum Glück hatte ich nur geträumt. Raus aus dem Bett, rein ins Bad, Wasserhahn auf, kaltes Naß ins Gesicht, der Blick in den Spiegel – alles wie immer. Moment, was ist das für ein häßlicher Pyjama?