von Jan Knaupp

Ja, ich bin entsetzlich vergesslich. Zu oft in Gedanken und daher manchmal etwas zerstreut und abgelenkt. Das geht schon früh los. Wenn ich auf der Schwelle der Haustür stehe, stürmen fast immer dieselben Fragen auf mich ein. Also habe ich mir angewöhnt, bevor ich aus dem Haus gehe, eine Checkliste abzuarbeiten. Erst wird nachgeschaut, ob der Herd ausgeschaltet ist. Der Herdinspektion folgt die des Wasserkochers, der Beleuchtung und der Wasserhähne. Wenn ich danach dann im Auto sitze, habe ich oft schon vergessen, ob ich die Haustür abgeschlossen habe, ob das Hoftor zu ist, wo sich die Fahrzeugpapiere befinden, in welcher Tasche das Smartphone steckt…
Asche auf mein Haupt – ich habe auch schon Geburtstage, jährlich wiederkehrende Jahrestage, Jubiläen und Festivitäten, die sich nicht gerade in meinem direkten Umfeld abspielen, vergessen. Auch PIN-Nummern, Passwörter, Chiffre-Zeichen und Zugangsworte sind vor meiner Vergesslichkeit nicht sicher. Selbst die Eselsbrücken, die ich mir als Gedächtnisstütze ersinne, haben eine geringe Haltbarkeit.
Wenn ich die Verhütungspille nehmen müsste, um mich vor ungewollter Schwangerschaft zu schützen, hätte ich wahrscheinlich schon das Bundesverdienstkreuz als Deutschlands Vorzeigemutter. Peinlich finde ich es auch, wenn mich Leute ansprechen und mir das Gefühl geben, wir würden uns kennen. Ich zermartere mir dann über eine frühere Begegnung das Gehirn – meist ohne Erfolg. Meine Vergesslichkeit ist aber nicht krankheitsbedingt – eher muss ich mir selbst bescheinigen, dass ich meine Gedanken nicht im Griff habe. Ich kann während eines Gespräches nicken und sogar antworten, aber in meinem Kopf läuft zeitgleich oftmals ein ganz anderes Programm. Mit der Zeit habe ich mich aber an meine Vergesslichkeit gewöhnt. Ich bin manchmal zerstreut und unaufmerksam, aber daraus entstehen eigentlich keine allzu großen Kontroversen.
Da gibt es ganz andere Beispiele. So gibt es Profisportler, die total überrascht sind, wenn ihnen bescheinigt wird, Dopingmittel zu benutzen. Einige hochrangige Politiker und Staatsbedienstete, die mit Plagiatsvorwürfen zu ihren Doktorarbeiten konfrontiert werden, wissen oft nicht, wie es dazu kommen konnte. Auch nach der Entdeckung von gefälschten oder beschönigten Lebensläufen, scheinen die Betroffenen plötzlich unter Amnesie zu leiden.
Selbst Bundeskanzler Scholz hat mit Erinnerungslücken zu kämpfen. Besonders im Untersuchungsausschuss zur Hamburger Cum-ex-Affäre berief er sich auf seine Vergesslichkeit. Verschiedene Institutionen und einige Mitarbeiter von Bund, Ländern und Kommunen haben vergessen, dass ihre Arbeitsplätze eigentlich vom Steuerzahler bezahlt werden. Es gibt hochrangige Staatsdiener die nicht mehr wissen, wem sie eigentlich verpflichtet sind. Es gibt Politiker, die nach ihrer Wahl vergessen haben, was sie vor der Wahl ihren Wählern versprachen. Es soll sogar Ministerinnen und Minister geben, die sich nach Amtsantritt nicht mehr an den Inhalt des geschworenen Amtseides erinnern können.

Und so gibt es viele Arten des Vergessens. Manche vergessen banale Dinge, andere die wirklich wichtigen Sachen. Es gibt Erwachsene, die scheuchen spielende Kinder vom Rasen und vergessen dabei, dass sie auch einmal jung waren. Andere wiederum haben vergessen, dass sie einmal alt werden. Manche vergessen, woher sie gekommen sind, andere wohin sie gehen wollen. Manche vergessen das Miteinander, andere vergessen ihren Anstand. Und manch einer hat sich schon selbst vergessen.

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