von Jan Knaupp
Und plötzlich sind sie wieder da. Die Erinnerungen an eine zwischendurch vergessene Zeit. Eine Zeit, die aus heutiger Sicht einfach und unbeschwert war, die aber vom Erwachsenwerden erdrückt wurde. Wenn die Erinnerungen an die Kindheit kommen, erscheint vor meinem inneren Auge auch das kleine Dorf nahe der polnischen Grenze. Da ist die staubige Pflasterstraße, auf der zu unserer Begeisterung ab und zu mal ein Auto vorbeikam. Doch größtenteils bestimmten Landmaschinen und blaue oder gelbe Mopeds der Marke „Schwalbe” das Verkehrsbild. Da ist der kleine Dorfspielplatz inmitten der alten Schattenspender und der Feuerlöschteich, der immer satt mit Entengrütze bedeckt war. Da ist der alte Konsum, der vom Nähgarn bis zur Fischbüchse allerlei Alltagstaugliches im Angebot hatte. Ich sehe uns Kinder mit der zerschrammten braunen Ledertasche, deren Griffe mit Ankerplast umklebt waren, beim Bäcker stehen. Das dann erworbene Brot kam selten heil an seinen Bestimmungsort. Es duftete zu verführerisch.
Ich sehe das alte Haus mit der Holzlaube vor dem Eingang und dem großen braunen Scheunentor auf der rechten Seite. Vor dem Haus stand eine Wasserpumpe und ein knorriger Apfelbaum. Der Flur mit dem Steinboden war immer dunkel und auch im Sommer kühl. Hinter der zweiten Tür links war die Küche. Da die Eckbank, die Spüle mit den zwei Emailleschüsseln, gleich daneben der Küchenschrank, dem beim Öffnen ein Geruchsgemisch von Zwieback, etwas zu feuchtem Speisesalz, Medizin und allerlei Konsumerrungenschaften entwich. Ich höre den Klang der alten Uhr, wie sie tickt, das Klackern des Pendels.
Und ich sehe Franz. In seiner braunen Cordhose sitzt er gemütlich am Küchentisch und bläst blauen Rauch in die Luft. Der Geruch seiner geliebten „Jagdstumpen“ hat bei seiner Hilda, in beständiger Regelmäßigkeit, nicht gerade Begeisterungsstürme hervorgerufen. Er nahm es immer gelassen.
Da ist die alte, spartanisch eingerichtete Dachkammer, in der es im Winter zu kalt und im Sommer zu warm war. Doch so leichtfüßig wie damals, bin ich wahrscheinlich morgens nie wieder aus dem Bett gesprungen. Unten, in der Küche, wartete der warme Kakao und der Zwieback mit Butter und Salz.
Auch an den Keller kann ich mich gut erinnern. Hier roch es leicht kartoffelmuffig, und das Ambiente lud uns Kinder nicht gerade zum Verweilen ein. Trotzdem landeten wir ab und zu hinter Schloss und Riegel besagten Kellers. Natürlich nur, wenn wir uns erwischen ließen. Ich kann nicht einmal mehr genau sagen, wobei wir erwischt wurden. Vielleicht hatten wir Hildas Hühnerstall durch das Hühnertürchen geentert, um ihr die frischen Eier zu stibitzen. Vielleicht haben wir mal wieder ihre Kaffeemühle mit Getreide gefüllt oder uns illegaler Weise auf dem Heuboden herumgetrieben. Es könnte aber auch sein, dass wir, animiert durch „Die Söhne der großen Bärin“, die gute Stube in ein Indianerlager umfunktioniert haben. Fakt ist, man steckte uns zur Strafe mal wieder in diese muffige Dunkelheit. Doch diesmal waren wir vorbereitet. Wir hatten Löffel dabei. Eingeweckte Erdbeeren isst man schließlich nicht mit den Fingern. Ich glaube, wir mussten danach nie wieder in den Keller.
Bei Feierlichkeiten saßen wir Kinder am sogenannten Kindertisch, der ein Stück neben dem Tisch der Erwachsenen stand. Dieser kleinere Tisch, der ja nur einen Notbehelf zur mangelnden Platzkapazität darstellte, gab uns den nötigen Abstand zur Obrigkeit, um bei Kaninchen und Rotkohl weiterhin Gesichtsgrimassen zu üben.
Ab und an stellte sich unser Franz an den Herd und zauberte für uns Kartoffelplinse. Kross gebacken und mit viel Zucker – etwas Besseres habe ich seitdem nie wieder gegessen.
Mittlerweile hat auch dieses Dorf sich verändert. Die Straße ist asphaltiert, und blaue oder gelbe Schwalben sieht man nur noch selten. Das alte Haus steht noch da, aber die alte Küchenuhr tickt nicht mehr. Aus der Küche soll mittlerweile ein Schlafzimmer geworden sein. Hilda und Franz wohnen auch nicht mehr in dem Haus. Er ist schon vor vielen Jahren gegangen, sie ist ihm vor ein paar Jahren gefolgt.
Ich würde gern noch mal mit den beiden in der Küche sitzen, mit den selbstgeschnitzten Würfeln „Mensch ärgere Dich nicht“ spielen und den Zigarrenrauch schnuppern. Leider ist das nicht mehr möglich.
Zum Glück bleiben aber die Erinnerungen. Und in diesen Erinnerungen bin ich manchmal für kurze Zeit in dem alten Dorf, bei dem alten Haus und bei den beiden alten Leuten. Dann bin ich wieder der Junge, der mit der schäbigen braunen Ledertasche zum Bäcker flitzt und das frische Brot gleich auf der Straße anbeißt.