Da haben wir den Beweis. Der Spruch „Wenn man sich auf andere verläßt, dann ist man verlassen“ trifft zu. Nicht immer, aber in diesem Fall hat er sich in bittere Realität verwandelt. Denn eigentlich wollte ich heute gar kein „So gesehen“ verfassen. Vielmehr gedachte ich, raffiniert wie ich nun mal bin, die Kolumne einem anderen Kollegen zu überlassen. Doch wenn man sich verläßt …. Pustekuchen, Abgabetermin verpaßt, Ätsch, angeschmiert!
Nun gut, da hilft auch kein Jammern, ich muß halt ran. Es macht natürlich irre Spaß, unter Zeitdruck zu agieren. Also muß schnell eine Thematik her. Vielleicht sollte ich mich heute einem Thema widmen, das mir schon lange unter den Nägeln brennt, was schon immer aus mir rausbrechen wollte, was interessant und spektakulär ist, womit ich am Zenit des Schreibertums anlangen würde – doch mir fällt überhaupt nichts ein. Wissen Sie, was ich jetzt mache? Ich bediene mich einfach bei einer meiner Kolumnen, die ich schon vor Jahren geschrieben habe. Die baue ich dann ein bißchen um, nehme da was weg, schreibe hier etwas hinzu – und fertig ist der Lack. Mit etwas Glück, merkt keiner was. Oder?!
Obwohl, vielleicht wäre das hier ein Thema. Nach den Fernsehbildern von den Straßenkämpfen zum 1. Mai, mußte ich irgendwie an die ausgestorbenen ostdeutschen Jung- und Thälmann-Pioniere denken. Also an uns. Nee, wir waren nicht militant, aber so eine Art Kampfgruppe waren wir wohl auch. Wie, man kann heutzutage nicht mehr über Pioniere schreiben? Doch, das geht ganz einfach. Erst recht, wenn man sich an das sozialistische Brumborium zum 1. Mai zurück erinnert.
Rote Nelke im Knopfloch, um acht Uhr am Stell- oder Sammelplatz getroffen, später mit Winkelementen an den versammelten Provinzhauptmännern vorbeigegrinst. Ja, so war das.
Staatlich verordnetes Sammeln bzw. Versammeln war in jener Zeit schwer angesagt. Irgendwo wurde immer versammelt oder gesammelt. In meiner Kinderzeit gab es Tage, an denen wir von Haus zu Haus gezogen sind und gesammelt haben. Wir sammelten nicht für die Heilsarmee oder verkündeten irgendeine frohe Botschaft – wir sammelten schlichtes Altpapier. Von irgendeinem Ministerium in sozialistische Junior-Kampfgruppen unterteilt (Gruppe I = blaue Halstücher, Gruppe II = rote Halstücher, Gruppe III = blaue Hemden), gingen wir auf die Suche nach den wertvollen Altlasten. Jede Kampfgruppe hatte auch ihr ganz persönliches Kampflied. Kampflieder waren in dieser Zeit ja auch sehr angesagt. Ich erinnere mich noch an dieses: „Ham‘se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa, klingelingeling – dann geben sie‘s mir, sonst holt sich‘s vielleicht ein Großer. Ham‘se nicht noch Altpapier, Flaschen, Gläser oder Schrott, klingelingeling – dann geben sie‘s mir, sonst holt sich‘s die FDJ“.
Ja, so ein Lied gab es wirklich. Obwohl es im Detail nicht ganz stimmte. War man erst in der FDJ, ging man nicht mehr zum Altpapier sammeln. Als FDJler gehörte man eigentlich automatisch in die Reihen der Null-Bock-Fraktion. Jedenfalls wenn man zu denen gehörte, deren Ohren vom Haupthaar überdeckt wurden und deren Jeans so eng waren, daß es einem fast die Weichteile abschnürte.
Trotzdem, im Sammeln waren wir damals ganz groß. So sammelten wir uns auch zu Fahnenappellen, zum 7. Oktober, an den Raucherinseln und in den Schulpausen über Schmuddelheftchen aus dem westlichen Ausland. Gesammelt haben wir auch Unterschriften. Da wir nicht die Möglichkeit hatten, Autogramme von irgendwelchen Rockstars zu erhaschen, sammelten wir halt Unterschriften in unserer unmittelbaren Umgebung. Unterschriften von unseren Mitbürgern, die wir dann mit angehefteter Petition zum Thema Weltfrieden verschickten.
Aber genug der alten Geschichten, schließlich soll mein „So gesehen“ kein antiquiertes Sammelsurium werden. Doch bevor ich mir jetzt ernsthaft Gedanken über ein Kolumnenthema mache, muß ich Ihnen gestehen – mir fällt überhaupt nichts ein!